KOMMET IHR HIRTEN

    Winterlandschaft

    Kommet ihr Hirten


    Hirtentum – wie nah hat mich das Jahr an dieses Wort doch gebracht. Ganz zart wurde der Keim zur letzten Weihnacht gelegt, als ich einen interessanten Artikel von Christiane Grefe in der Zeit gelesen habe. „Bleibet, ihr Hirten“ hieß es da im Titel und ich fand das schön und passend. Hier war es gelungen, beides zu vereinen, das politische, aktuelle und gesellschaftliche Geschehen und das ungreifbare, emotionale Bild, was im Wort „Hirten“ mitschwingt. Das, was wir alle wohl unwillkürlich im Kopf haben, wenn wir dieses Wort hören. Etwas zu „behüten“ hat auch im allgemeinen Sprachgebrauch diesen wohligen Anklang für das „Behütete“, sich sicher und geborgen fühlen zu dürfen. Wer es schon einmal erlebt hat, wie eine Schafherde ihrem Schäfer folgt, vertrauensvoll, als wüssten die Tiere, dass ihnen unter ihrem Hirten an nichts mangeln wird, der hat dieses Bild mit einem Gefühl komplettiert. Das, was wir uns in diesem Bild so sehnlichst wünschen, diese Realität von nonverbaler Kommunikation, von Achtsamkeit, von zarten Banden zwischen den Wesen, von gegenseitigem Aufeinander-Achten und gemeinsam gegangenen Wegen, hat Methode und Umsetzungsmodelle. Sie nennen sich Hirtentum.

     

    Nun ist mein kleines Hirtentum hier auf dem Hof noch weit davon entfernt, was weltweit gesehen auf Pastoralismus-Konferenzen zur Kultur der Nomaden und zur Transhumanz debattiert wird. Wir hier ziehen maximal im Frühjahr auf die Weiden oder winters in den Stall. Gut, zugegeben, am Anfang des Jahres laufen wir ein wenig mehr zusammen, denn da muss ich vorsichtig anweiden und die Schafe brauchen nachts im Stall noch Heu, damit sie den hohen Eiweißanteil der aufkommenden Weiden nicht so schockmäßig ihrem Viermagentrakt zuführen und noch ausreichend Rohfaser in der Umgewöhnungszeit erhalten. Nach der Schur, wenn uns die Schafskälte erwischt, bringe ich die Mähdels auch gerne nochmal für ein paar Nächte zum Abend ins warme Stroh, denn so plötzlich ohne Wollpulli draußen schlafen ist nicht nett. Im Spätherbst kann es schonmal sein, dass die ersten miesen Nächte – 2 Grad und Regen – mich dazu bringen, die Schäfchen auf ein trockenes Liegeplätzchen für die Nacht zu holen. Das sind dann Momente, in denen wir öfters mal zusammen laufen. Aber das ist marginal gehütet allein schon im Gegensatz zu Schäfereien, die noch in der Heide hüten.

    In diesem Jahr hatte ich das Glück, einen hütenden Schäfer kennenzulernen, bei dem ich ähnliches wahrgenommen habe wie bei mir in der Herde und dies bestärkt mich in der Ansicht, dass es etwas geben könnte, was alle Hirten, egal wie ausgiebig sie hüten, gemeinsam haben könnten. Es ist ein unbeschreibliches, nicht in unsere moderne, städtische Welt passendes Gefühl und Sein. Doch wie soll ich es hier beschreiben, wenn es kaum Worte gibt, deren Bedeutung diesem Gefühl Ausdruck verleihen? Ich kann versuchen, es in metaphorischen Bildern auszudrücken oder bildliche Metaphern malen mit den Worten, die ich schreibe.

     

    Ein wenig Bildergeschichte, bitte!

    Kulturgeschichtlich bilden alle Menschen, die als Hirten mit ihren Tieren gelebt haben und leben, eine Art eigene Gesellschaft, mit eigenen Werten, Normen und Weltanschauungen, die sich aus dem Alltag der Menschen ergaben. Ebenso ergab sich die künstlerische Gestaltung aus der Erfahrungswelt der Hirten und Nomaden, der Steppenvölker, der ziehenden, wandernden Menschen. Alltagsgegenstände sind reich verziert, Kunst, die irgendwo angebracht wird, gibt es nicht, denn wer sein Zuhause ständig mit sich rumträgt, mag nicht jedes Mal Bilder aufhängen und wieder einpacken, wenn es an der Zeit ist, weiterzuziehen. Der Mensch, seine Tiere, sein Hab und Gut und der Raum, in dem er lebt, scheinen ineinander verwoben und einem eigenen Rhythmus zu folgen, der sich nach dem Jahreswechsel und alten Wanderwegen richtet. Diese Wege werden erst für das Auge erkennbar durch die Lebewesen, die sie beschreiten. Selbst Tierherden, die auf einer Koppel gehalten werden, bilden dies ab, denn jeder Schäfer kennt es, wenn die Schafe auf der Weide nach ein paar Tagen beginnen, einen Wanderweg zu hinterlassen, wo sie oft langgehen.

    Das Zwischenklauensäckchen, was wie der Name schon sagt, genau zwischen der zweigeteilten Klaue am Kronsaum sitzt, ist eine Drüse und sondert Sekret ab, welches den Weg, den das Schaf gegangen ist, markiert. Beim Auftreten wird ein wenig von dem Sekret abgegeben, welches auf dem Trittsiegel des einzelnen Tiers haften bleibt. Wenn nun eine ganze Herde Schafe irgendwo langläuft, hinterlässt sie also eine gut erspürbare Spur – allerdings erst nicht sichtbar, sondern für die Nase. Wer schon einmal beobachtet hat, wie eine Schafherde so verträumt drömelig auf der Weide umherzieht, etwa zu einem interessanten Futterplatz, der weiß, dass dabei alle Schafe mit dem Kopf nach unten laufen. Sie riechen, wo der Weg ist und laufen ihm nach, lassen sich vom Weg leiten. Ab und an schaut eins hoch, meist ein Schaf, welches innerhalb der Herde diese Bewacherposition innehat und hält Ausschau nach potentiellen Gefahren wie Raubtieren, Hütehunden oder aber auch einer Schäferin, die mit leckerem Verwöhnkrams auf die Weide kommen könnte und die dann zu überfallen ist. Dann wird auf das in der Herde verabredete Zeichen geblökt und alle wissen augenblicklich, was jede Einzelne zu tun hat. Oder jedeR einzelne Schaf – der Bock – ich muss ja jetzt in meinen Formulierungen eigentlich immer gendern…..

     

    Aber hoppala – die sogenannte Brownsche Bewegung hat mich von meinen stringenten Erzählungen abgelenkt. Ich war dabei, von den alten Hirtennomaden zu erzählen, die sich anders orientierten als die seßhaften Kulturen, die ihrerseits unsere Gesellschaft wesentlich prägen und sich den nomadischen gegenüber oftmals – vermeintlich – überlegen fühlten. Ansammlung von Besitz, Macht aufgrund von Reichtum. All das gibt es bei den Nomadenvölkern auch, aber deren Besitz ist beweglich und von daher in seinem Umfang und seiner Schwere begrenzt, denn sonst müsste man ihn hinter sich lassen, um überleben zu können, weil Leben ständige Bewegung erfordert. Der Besitz, der Reichtum bildet sich unter anderem in den Tierherden ab, es ist ein lebendiger Reichtum. Lebendiges hat Beziehungen untereinander und so kommt es, dass Zeit, Raum, Mensch, Tier, Boden, Pflanze,Witterung und Ortswechsel gleichermaßen Bedeutung haben und alles zueinander geordnet und in Bezug gesetzt werden muss, um in einem stabilen und lebendigen Gleichgewicht gehalten zu werden. Nur indem man in diesem Ryhthmus der Bewegung bleibt, kann die Grundlage für weiteres Leben durch diese Bewegung erhalten bleiben. Wenn andere, moderne Werte in den Vordergrund gestellt werden, ist diese Art, zu wirtschaften aber nicht effizient genug, denn sie zielt nicht auf etwas Konkretes ab, z.b. den Gewinn, sondern ihr Ziel ist etwas Ungreifbares – das Gleichgewicht und die Bewegung darin.

    Die Bedeutung, die in seßhaften Kulturen der Zeit beigemessen wird, übertragen Nomaden auf den ebensowenig faßbaren Raum, oder sie ergänzen sie zumindest in diesem Sinne. Das Paradox der Steppe, des Landesinneren par excellence, liegt darin, dass sie ein unendliches Meer bildet, das bewegter ist als das Mittelmeer und auf dem Spuren schwerer als auf Wasser zu fassen sind. (…) Bei einer Seereise gibt es einen Abfahrts- und einen Ankunftsort und zwischen beiden geschehen keine wirklichen Veränderungen. Demgegenüber verläuft die Wanderung von Menschen, Vorstellungen und Motiven in der Steppe mit Vorstoß, Rückzug und Vermengungen nach den Regeln der Brownschen Bewegung und verwischt die Spuren. Wer sich hier auf eine Reise begiebt, ist bei seiner Ankunft am anderen Ende des Weges nicht mehr derselbe. (Veronique Schlitz, „Die Skythen und andere Steppenvölker“, beck Verlag, München 1994, S. 355)

     

    Die Nahrung der Hirten

    Die Hirten verlassen uns. Aber nicht, weil sie das unbedingt wollen, sondern weil wir ihnen den Lebensraum nehmen, wie anderen bedrohten Arten auch, die nicht offensichtlich wirtschaftlich erfolgreich sind oder augenscheinlich keinen großen Nutzen für uns haben. Dabei ist es egal, ob es sich um eine kleine Insektenart handelt oder um alte Nutztierrassen, die weniger Ertrag pro Tier bringen. Der Fokus wird lediglich auf die materielle Leistung des Tieres gesetzt: den Fleischertrag, den Milchertrag oder die Legeleistung von Eiern pro Jahr. Logisch war das. Als wir noch nicht so viele Menschen auf der Erde waren und das Leben ein wesentlich entbehrungsreicheres und schwierigeres, oftmals gefähliches Unterfangen war – in seßhaften wie in nomadischen Kulturen gleichermaßen wohlgemerkt. Da hatte Nahrung einen großen Stellenwert, den sie auch heute noch hat, wobei sie in „westlich-europäischen“ Gesellschaften einfach leider viel zu leicht zu erwerben ist, als dass sie ihre ürsprüngliche Bedeutung noch erfüllen könnte. Heute aber, da wir vor ganz anderen Problemen stehen, während wir mit schuldbewusstem Blick auf die Waage noch die Reste vom Nachmittagsimbiss von den Lippen wischen, haben sich die Bedeutungsebenen ganz wesentlich verschoben. Die Herausforderung in der Nahrungsmittelerzeugung besteht vielmehr darin, so zu erzeugen, dass wir noch lange in der Lage sein werden, Menschen zu ernähren. Und dafür heißt es Arbeit auf allen Ebenen. In der Veränderung unseres Fleischkonsums zum Beispiel, der sich ruhig wieder zum Sonntagsbraten hin entwickeln sollte, in der Veränderung unserer Bereitschaft zur monetären Entlohnung für Erzeuger, die in Kreisläufen und Vielfältigkeit wirtschaften und somit in Gleichgewichten arbeiten, in der Veränderung von Arbeitsprozessen, die nicht allein auf Produktion und mehr Produktion ausgelegt sind, sondern auf Sparsamkeit. Sparsamkeit mit unseren vorhandenen Ressourcen und Sparsamkeit mit der Produktion von Müll. Und während ich dies schreibe, bemerke ich amüsiert, dass es für mich eigentlich keinen Unterschied macht, ob wir Abfall produziert haben in Form von unnützen Plastikverpackungen oder Abfall in Form von minderwertigen, industriellen Plastikprodukten jeglicher Art, vom Alltagsgerät bis hin zum Multifunktionskleidungsstück –  oder Abfall in Form von minderwertigen Lebensmitteln. Ein in China, Südamerika oder Neuseeland aufgezogenes Schaf, halbtot mit einem Containerschiff (!) nach Europa transportiert, in Rumänien geschlachtet und per Kühlhänger in den Supermarkt gefahren kann einfach nicht die Basis für einen wirklich guten Lammbraten abgeben. Gleichzeitig wird Lamm – oder schlimmer noch, die erst noch lebendigen Schafe – aus Deutschland exportiert, um in anderen Ländern geschlachtet und dort als heimisches Lammfleisch vermarktet zu werden. Weil diese Vorgehensweise irgendwie „wirtschaftlich effizienter“ sein soll. Ja, mein betriebswirtschaftliches Betriebsleitergehirn kann das faktisch nachvollziehen. Aber der Sinn des Ganzen erschließt sich mir nicht.

    Zugleich wird das Grünland selbst mittlerweile intensiv bewirtschaftet. Statt einer Vielfalt aus Glatthafer, Goldhafer, Aufrechter Trespe, Welschem Weidelgras, Wilder Möhre und anderen Gräsern und Kräutern, die Schafe so gern mögen, wachsen dann meist nur noch wenige ausgesäte, proteinreiche Sorten für die Fütterung im Stall. Die werden kräftig gedüngt, damit die Kühe auf 30 Liter Milchleistung kommen. (Christiane Grefe, „Bleibet, ihr Hirten!“, ZeitMagazin, Ausgabe Nr. 53/2017, 19. Dezember 2017)

     

    Genügsame Nahrungsmittelproduzenten und Naturschützer zugleich

    Es ist also immer wieder dasselbe Ziel: Output, Leistung, Effizienz in Hinsicht auf ein greifbares Produkt. Effizienz kann auch in Hinsicht auf Naturschutz oder Veredelung, Umwandlung gesehen werden. Es gibt Gegenden, deren Böden nicht so ergiebig sind, wo es auf das Produkt gesehen nicht reicht, um dort entsprechende Erträge runterzuholen. Sogenannte ertragsschwächere Standorte. Oder spezielle Natur- und Kulturlandschaften. Boden, der nicht zum Beackern, zum Anbau von Getreide reicht, oder wo ein vergleichsweise zu hoher Input benötigt wird, damit ein demgemäß zu rechtfertigender Output rauskommt, kann in der anderen Betrachtungsweise wunderbar effizient mit genügsamen Tieren beweidet werden. Zum einen erhalten die Tiere durch die Beweidung diesen Lebensraum, in dem auch andere, nicht wirtschaftlich genutzte Artzen ihre Heimat finden und zum anderen wird hier „karges Land“ mitunter in einen hochwertigen Energie- bzw. Eiweißlieferant verwandelt. Das ist nicht nur für karge Steppenregionen interessant, für Hochalmen oder für die Heide – es könnte durchaus auch für unsere krisengebeutelte Landwirtschaft ein eventuell zu überdenkender Produktionsfaktor sein oder werden. Unser heutiger Lebensstil mit seiner Verschwendungssucht und Ertragsgier gleichermaßen lässt sich nur erhalten, wenn ständig alles und immer verfügbar bleibt, denn sonst läuft diese effiziente Produktionsmaschine nicht mehr. Gesehen haben wir es in diesem Jahr mit der Dürre und ihren Konsequenzten sowohl praktischer Art, als auch der Diskussionen, die sie ausgelöst hat.

    Erst diese und andere ökologische Krisen öffnen Wissenschaft und Politik allmählich die Augen dafür, wie ausgeklügelt Pastoralisten und ihre Herden selbst den kärgsten Vegetationszonen noch Lebensmittel abtrotzen können. Sie verdanken es der genialen Erfindung des Wiederkäuens. Auf dem Weg durch Mehrkammermägen kann noch die trockenste Pflanzenfaser in Fleisch und Milch verwandelt und so auch der menschlichen Ernährung zugänglich gemacht werden. Selbst in Deutschland holten Schafe noch immer etwas raus, „wo Bauern nicht mehr klarkommen“, wie Günther Czerkus sagt; in feuchten Mooren, trockenen Heidelandschaften, auf der zugigen Alb. (Christiane Grefe, „Bleibet, ihr Hirten!“, ZeitMagazin, Ausgabe Nr. 53/2017, 19. Dezember 2017)

    Auch für mich war es in diesem Sommer spürbar. Trockene Jahre sind gute Schafjahre, sagt man als Schäfer. Gut, es war vielleicht ein wenig arg trocken und im Verbund mit unseren Kühen hatten auch wir nicht zu geringe Futtersorgen, allerdings habe ich bei meinen Moorschnucken beobachten können, dass sie als alte genügsame Landschafrasse bis in den Spätherbst hinein bei guter Weideführung keine Zufütterung brauchten. Der spärliche Aufwuchs war ausreichend für eine gute Ernährung und durch die Trockenheit hatten wir wenig Parasitendruck, der es mir ermöglichte, das aufkommende Futter auch gänzlich zu nutzen. Dennoch ist eine solche Nutztierrasse vom Aussterben bedroht. Warum? Weil sie in unserem üblichen Denkschema nicht effizient genug ist und zu wenig Ertrag pro Tier bringt. Erstens habe ich mit der Weidewirtschaft zu viel Arbeit, was die Arbeitseffizienz stört und zweitens kommt bei dem Arbeitseinsatz auch noch nicht einmal das heraus, was moderne Ökonomen unter „betriebswirtschaftlich effizient“ verbuchen. Aber da wir unseren Hof als einen kleinbäuerlichen und vielfältigen Betrieb gebaut haben, weil wir hinter dieser Idee stehen und ihr ein mögliches reales Antlitz geben wollen, haben wir die Ökonomie unserer Wirtschaftsweise angepasst. Es gibt da viele Ebenen und viele Schräubchen, an denen man drehen kann. Sollte sich etwa zeigen, dass uns in diesem Sommer noch etwas viel Wertvolleres an gewollter Diversität, hingenommenem „Minderertrag“ und nicht monetär berechneter „externer Leistung“ offenbar wurde? Was wäre, wenn wir uns an dieser Genügsamkeit alter Nutztierrassen und dem Leben in einem ausgeklügelten Gleichgewicht der Hirten orientieren würden? Was wäre, wenn auch das Gleichgewicht aus Ertrag und Naturschutzleistung für uns selbstverständlich wäre, wie es für alte Hirtennomaden ist, die sehr wohl wissen, dass eine Störung dieses Gleichgewichtes katastrophale Folgen für deren sensibles Ökosystem hätte? 

     

    Die Rolle der Weidewirtschaft für Nachhaltigkeit

    Ein Grund für die neu aufkommende Wertschätzung der wandernden Hirten und Herden ist ihre Rolle als „Ökosystemdienstleister“. Die berechtigten Sorgen um Überweidung und Methanemissionen haben vergessen lassen, dass Wiederkäuer nicht nur mit ihrem Dung für Bodenfruchtbarkeit sorgen. Daran erinnert auf der Konferenz in Delhi die deutsche Tierärztin Anita Idel. Erst wenn Weidetiere zubeißen, hat die Futterpflanze den notwendigen Wachstumsanreiz und wandelt effizient CO₂ aus der Atmosphäre um. Dabei speichert sie eine Menge Kohlenstoff im Blatt und noch mehr in ihren weitverzweigten Wurzeln. „Gras ist mehr als das Grün, das man sieht“, sagt Anita Idel, „ein großer Teil seiner Biomasse wächst unterirdisch.“ Würmer und Bakterien machen sich über das reiche Angebot im Wurzelwerk her. (Christiane Grefe, „Bleibet, ihr Hirten!“, ZeitMagazin, Ausgabe Nr. 53/2017, 19. Dezember 2017)

     

    Schaut man in der Richtung weiter darauf, was bei der Beweidung geschieht, bemerkt man oft Erstaunliches, was uns modernen, städisch geprägten, Nahrungsmittel kaufenden und nicht mehr Nahrungsmittel erzeugenden Menschen nicht mehr so offenbar ist, wie es den Hirten und Schäfern war. Einerseits geht es um Akteure kleinerer Arten wie Insekten, die sich am Dung der Tiere laben oder Bodenbrütern, die friedlich neben den Weidetieren ihre Gelege bebrüten und ihre Nachkkommen aufziehen oder auch den ganz direkten Einfluss der Weidetiere:

     Dass „die Wurzeln von heute der Humus von morgen sind“, zeige sich weltweit an den ergiebigsten Kornkammern. Von der Pampa über die Prärie und europäische Flusstäler bis zu den Schwarzerden der Ukraine waren sie allesamt früher Steppen, auf denen Guanako, Bison oder Auerochse wanderten. Die dichte Grasnarbe, die ihr „goldener Biss“ herstellt, verhindert die Erosion und hält das Wasser im Boden.

    Heute wird der Effekt durch maschinelle Mahd imitiert. Aber die Rolle wandernder Hirten und Herden ist nicht zu ersetzen. Beispiel Artenvielfalt: Manche Pflanzensamen keimen erst dann, wenn sie einmal den Darm eines Wiederkäuers passiert haben. Ohne sie gäbe es in Rajasthan keine Akazien und Khejri-Bäume, Lieblingsspeisen des Kamels, und in der Eifel weniger Klee oder Lupinen.

    Kamele, Ziegen und Schafe machen sich als „Samentaxis“ nützlich. Wenn sie im Gebüsch, an Hecken und Waldsäumen grasen, dann bleiben Pflanzensamen, auch Insekten und kleine Reptilien in ihrem Fell hängen und wandern kilometerweit mit. Ein Trick der Natur, sagt Günther Czerkus. Denn so werde verhindert, dass verinselte Biotope genetisch verarmen. Von denen gebe es in der aufgeräumten und asphaltierten Landschaft immer mehr. (Christiane Grefe, „Bleibet, ihr Hirten!“, ZeitMagazin, Ausgabe Nr. 53/2017, 19. Dezember 2017)

     

    Steppentier

     Wenn wir an Schafhaltung denken, denken wir dann automatisch daran, dass ein hütender Schäfer auch solche Dinge sieht, wenn er stundenlang seinen grasenden Schafen zusieht? Dass er die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Lebewesen beobachtet und über die Jahre seiner Arbeit Veränderungen wahrnimmt? Oder denken wir in erster Linie daran, dass der Schäfer Lammfleisch erzeugt? Angesicht der Tatsache dass der moderne Schäfer auch „Tierwirt Fachrichtung Schäferei“ heißt, vermute ich eher letzteres. Als zweites denken wir bestimmt an die Heide, da klingt es noch an, dass die Schafe irgendwie etwas damit zu tun haben, dass diese Landschaft so aussieht, wie sie aussieht. Und manch einer denkt vielleicht noch, dass ein Schäfer Wolle erzeugt. Aber in unserer modernen Ökonomie ist so ein aufwändig zu verarbeitendes Urprodukt – wer hätte es erraten – ineffizient geworden. Es sei denn, man wende wieder die globale Ökonomie an, in der es rechnerisch günstiger ist, massenweise Wolle aus produktions-strategisch günstigen Standorten zu importieren, die natürlich auch aus großen Produktionseinheiten – sprich riesigen Schafherden – kommt und sie an lohnkostengünstigen Standorten zu verarbeiten, um dann mit größtmöglichen Gewinn zu vertreiben, weil die Produktionskosten insgesamt niedrig sind. „Effizient“ heißt das in kurz ausgedrückt. Heimische Wolle und heimische Wollverarbeitung gibt es schon lange nur noch sehr verhalten. Oder irgendwie nur so halb-heimisch, mal ist die Verarbeitung ausgelagert, mal das Urprodukt, mal beides, mal Teile von beidem.

    Der Hirte hingegen, wie der Schäfer auch noch hieß, lebt irgendwie in einer anderen Welt. Wer es beim Lesen irgendwie nicht so einfach hatte, meinen eingänglichen kulturgeschichtlich verwirrenden Ausführungen zu folgen, der sei beruhigt. Wir denken nicht so. Und deswegen ist eine solche bewegte, in Beziehungen denkende, sich ständig zu neuer Bewegung anregende Sichtweise uns nicht vertraut. Jedes Detail, jeder Aspekt einer Sache regt zu neuen Verknüpfungen an. So wie es im Großen die Bewegung, das Denken und Sein der Hirten auch ausmacht. Der Schäfer ist unterwegs mit seiner Herde und hat gleichzeitig jedes einzelne Schaf im Blick. Die Herde muss satt werden und gleichzeitig muss noch Futter für morgen da sein. Die Schafe müssen rund werden, aber gleichzeitig müssen auch andere Lebwesen auf diesem Land leben können. Das Futter für die Herde muss sinnvoll und ertragbringend genutzt werden, aber gleichzeitig heißt sinnvoll auch sensibel und vorsichtig, denn das Futter ist kein unerschöpflicher Quell, da es einem sensiblen Lebensraum entspringt. Nicht genug, dass diese verschiedenen Aspekte gleich gewichtig sind, sie verändern sich auch noch je nach Weidegrund, verschieben sich je nach Jahreszeit und haben andere Dringlichkeiten je nach dem aktuellem Bedürfnis der Tiere. Schäfer und Hirten sind Meister der Vielschichtigkeit, des mühelosen Zusammenfindens von offenbar Unterschiedlichem, Gegensätzlichem und scheinbar Paradoxem. Denn sie haben verstanden, dass Lebendiges in Bewegung ist und Stillstand das Ende des Lebens bedeuten würde. Der Fokus auf nur einen Aspekt einer Sache – wie zum Beispiel der Fokus auf Ertrag oder Effizienz – beendet die Beziehungen vieler Akteure und wo es keine Beziehungen zwischen Dingen mehr gibt, kommt Bewegung zum Erliegen.

    Wir müssen nicht alle immer ständig wandern, um diese Bewegung zu spüren. Bei so vielen Menschen auf der Erde würde das auch ein ziemliches Durcheinander werden. Aber vielleicht geht es darum, eine innere Haltung zu dem, was uns umgibt einzunehmen, die voll von dieser Beweglichkeit und Vielschichtigkeit – Diversität ist. Eine innere Haltung, die vielen Aspekten Raum zugesteht und die Beziehungen zwischen noch den kleinsten Akteuren des Lebens sieht und würdigt – und bei der man doch nie die Orientierung auf etwas Größeres verliert. 

    Vielleicht ist es so etwas in der Art, was ich erlebe, wenn ich ganz zu Anfang sagte, dass es etwas was gibt, was ich bei Hirtenmenschen wahrnehme und es doch nicht in einfachen Worten sagen kann, was es ist.

    Kommet ihr Hirten – und bleibet…

    …denn wir brauchen euch und eure Sichtweise auf die Welt so dringend. Und dazu brauchen wir eure Fähigkeit, in selbstvergessener Ruhe mit den Tieren zu kommunizieren, ohne zu reden. Auch Schäfer machen Worte – jeder seine eigenen – wenn sie mit ihren Tieren zusammen sind. Aber das ist nicht die Kommunikation, die sie mit ihren Tieren haben. Die eigentliche Sprachebene spielt sich auf der von Körperbewegungen, Ausdruck, innerer Festigkeit, Weichheit, Ruhe und Stärke ab. Zuhören – das geht auch mit den Augen und bekanntlich am besten mit dem Herzen. Seitdem ich in dieser Schäferwelt arbeiten darf, bin ich trotz allem „Minderertrag“ immer wieder so reichlich beschenkt durch diese unhörbare Sprache. Vielleicht mehr durch den Umstand, dass ich sie in meinem Leben mit den Tieren erfahren darf. Gut, ich brauche noch recht viel Körperausdruck, um meinen Schafen etwas mitzuteilen. Wahrscheinlich bin ich für sie wie jemand, der gerade erst eine Fremdsprache gelernt hat und nun doch noch viele Gesten zur Unterstützung seiner Aussagen braucht oder gelegentlich auch ein bisschen rumstammelt… In diesem Jahr habe ich einen Schäfer kennengelernt, der seit 42 Jahren diese Sprache spricht, länger als ich hier auf der Erde bin. Er bewegt seine Schafe, indem er sie nur noch anschauen muss. Und sie gehen freundlich. Ich glaube, das ist die geheime Ebene dahinter. Die Tiere so „zu bewegen“, dass sie freundlich antworten, denn das wiederum lässt uns innerlich froh werden. Ein Miteinander, ein gemeinsamer Weg offenbart sich dann. Und wir werden frei für die vielen kleinen Dinge entlang dieses Weges.

    Dieses Miteinander erfahre ich auch jedesmal zur Weihnachstzeit wieder, denn es ist zumeist die Zeit, in der die Schafe in den Stall ziehen. In diesem Jahr ist es eine Woche vor Weihnachten gewesen, als der Stall fertig eingerichtet war und ich die Mähdels jetzt nicht mehr nur für die Nacht heimgeholt habe, sondern, um die „Stallzeit“ beginnen zu lassen. Hier liegen und entspannnen nun die tragenden Mütter und warten auf „Lammzeit“, die Gandenbrot habenden und Wolle erzeugenden Omas machen sich einen gemütlichen Urlaub im Stroh und an den Raufen. Wenn das Wetter so garstig wird wie jetzt und ich sie kurz vor dem großen Regen oder vor den durchnässten Nächten reingeholt habe und abends mal nach einem angestrengten Arbeitstag eben kurz neben ihnen ins Stroh plumpse, dann freue ich mich immer ungemein, denn ich kann selbst fühlen, wie gut es ist, dass es ein trockenes Plätzchen zum Liegen hat im Regensturm da draußen. Und diese Behaglichkeit hat mir schon vor Jahren eine andere Bedeutungsebene der Weihnachtsgeschichte eröffnet. Was, wenn da im Stall nicht plötzlich ein Säugling in der Raufe liegt, sondern Wärme und ein Miteinander zwischen den Wesen geboren wurde? So zart und verletztlich wie ein Neugeborenes und gleichzeitig voller Hoffnungen und Möglichkeiten, daraus etwas Großartiges werden zu lassen…

    In diesem Sinne höre ich auch Weihnachtslieder oftmals anders. In dem gleichnamigen wie diesem Artikel hier heißt es in der zweiten Strophe: „Was wir dort finden, lasset uns künden“… Aber was genau finde ich in meinem Stall und wie kann ich etwas verkünden, für das es doch keine Worte gibt? Es sind all diese Worte, die ich hier gemacht habe und doch sind sie es wieder nicht. Und ich weiß gar nicht, ob ich etwas „künden“ will. Denn dann bin ich ja bei den Worten und nicht bei meinen Schafen im Stall.

    Komm, Frau Schäferin – es geht in den Stall…..

    Dennoch – die alten Lieder sind und bleiben manchmal die schönsten und vielschichtigsten, wenn man aus verschiedenen Perspektiven draufhört. In selbigem Lied – welches übrigens das Gendern ganz problemlos hinbekommt, denn da heißt es ja: „Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Fraun..“, keine Lücke zwischen den Geschlechtern also, einfach alle zusammen herkommen und gut – hat alles einen angenehmen Fortgang. Der gesungenen Geschichte nach ist es recht simpel und gerade dadurch so schön: Die Hirtenmenschen kommen zum Stall und nachdem sie gesehen haben, was sie dort finden können, hören sie auch die Stimmen der Tiere und das Flüstern und Rauschen der „Welten hinter der Welt“. Ob es nun die Engel waren, mag dahingestellt sein, aber so wie es aussieht ist eines auf jeden Fall klar: es wird gut sein, denn „Nun soll es werden Friede auf Erden.“

     

    Ein friedliches Weihnachtsfest Euch allen Zwei- und Vierbeinern und einen schönen Start in ein gutes, neues Jahr voller gemeinsam gegangener Wege…

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